Der Beginn einer wunderbaren Verbindung
Die eigentliche Neuigkeit ist nicht das Halloren-Puppen-Paar, welches das Stadtmuseum Halle im Frühjahr dieses Jahres in seine Sammlung übernommen hat.
Der Hallore in Festtracht und die Halloren-Braut waren vielmehr Anlass für einen neuen Kontakt des Stadtmuseums. Wir pflegen stetig Kontakte zu Menschen, die in Halle leben oder gelebt haben und die aussagekräftige Gegenstände zur Geschichte von Halle beitragen.
Die Geschichte der Puppen aus DDR-Produktion ist folgende: Sie wurden um 1980 bei der Touristen-Information in Halle erworben. Die Käuferin schickte sie an eine hallesche Freundin, die seit Jahren in Neuss am Rhein lebte, d. h. in der Bundesrepublik. Als diese vor einigen Jahren ihren Haushalt auflöste, schickte sie die Puppen an die in Oberbayern lebende Tochter der inzwischen verstorbenen Käuferin.
Die Tochter nun rief uns im Januar 2021 an, erzählte die Geschichte und fragte, ob wir Interesse an den Puppen hätten.
Und ob wir Interesse hatten!
Zwar haben wir bereits ein etwas anders aussehendes Halloren-Puppen-Paar, das ebenfalls in der Touristen-Information verkauft wurde, sowie den identischen Halloren in Festtracht in unserer Sammlung. Doch kennen wir hier die Geschichten der Objekte nicht. Darüber hinaus ist die Geschichte dieser Puppen durch ihren deutsch-deutschen Hintergrund eine ganz besondere. Bemerkenswert ist auch, dass in diesem Fall vielfach als Kitsch verschmähte Souvenirartikel ihrer Funktion als Andenken tatsächlich gerecht geworden sind – eine Beobachtung, die wir schon häufiger gemacht haben, aber das ist ein anderes Thema.
Uns interessierte nun, wie die Freundin der Käuferin nach Neuss gelangt war und deren Tochter nach Oberbayern. Waren sie vor 1961 aus der Sowjetischen Besatzungszone oder der DDR geflohen, nach 1961 ausgereist oder geflohen bzw. nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989/90 umgezogen?
Wir machten, was wir in solchen Fällen immer machen: Wir fragten nach.
Über die Übersiedelung der Freundin von Halle nach Neuss ließ sich leider nichts mehr in Erfahrung bringen, weil auch sie inzwischen verstorben war und die Tochter der Käuferin nur das wenige bereits Erwähnte wusste.
Aber über sie erfuhren wir, dass sie 1936 in Halle geboren wurde und im oberen, d. h. „besseren“ Teil der Zwingerstraße aufwuchs. Nach dem Besuch der Glaucha-Schule wurde sie Apotheken-Assistentin. In diesem Beruf arbeitete sie in der Glauchaer Apotheke und später in der Humanitas-Apotheke im I. Wohnkomplex in Halle-Neustadt. Im Jahr 1960 heiratete sie einen ausgebildeten Chemiefacharbeiter und studierten Chemiker, der nach seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg und seiner Promotion dort zunächst im VEB Leuna-Werke Walter Ulbricht beschäftigt war, später beim Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung (ASMW). Das Paar bekam zwischen 1961 und 1973 vier Kinder, die es zuerst in der Zwingerstraße aufzog, ab 1965 im I. Wohnkomplex von Halle-Neustadt, Block 615, ab der Mitte der 1970er Jahre im III. Wohnkomplex. Im Jahr 1994 zog das Ehepaar nach Stuttgart um, wo zwei ihrer Kinder lebten. 2010 folgte es einem der Kinder von Stuttgart nach Oberbayern. Dort verstarb der Mann 2019. Die Kinder leben heute in Oberbayern, Stuttgart, der Schweiz und Australien.
Sigrid Gliem geb. Heinecke, so der Name der Tochter, ist ihrer Geburtsstadt bis heute sehr verbunden. Über ihren halleschen Freundeskreis nimmt sie Anteil am aktuellen Stadtgeschehen. Sie erinnert sich an historische und alltägliche Begebenheiten in Halle wie den Volksaufstand am 17. Juni 1953, die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 und das hallesche Original Reinhold Lohse genannt Zither-Reinhold (1878–1964), der in der Glauchaer Apotheke öfters nach Pfefferminztee verlangte.
Zwischenzeitlich hat Sigrid Gliem dem Stadtmuseum ein weiteres Objekt geschenkt, ein Winktuch vom Besuch der sowjetischen Kosmonautin Valentina Tereschkowa im Bezirk Halle im Oktober 1963.
Der Kontakt zu ihr ist, wie zu Zeitzeug*innen insgesamt, für das Stadtmuseum sehr wertvoll. Wir haben eine weitere Gewährsfrau, wenn es um die Erinnerung an bestimmte Ereignisse in Halle in den zurückliegenden Jahrzehnten geht. Gleichzeitig liefert die Familie Gliem ein ganz konkretes Beispiel für die massenhafte Abwanderung aus Halle-Neustadt nach 1989/90. Sie bekommt durch die Gliems gewissermaßen ein Gesicht.